Schmetterling
Sunday, 1. September 2002
nach drei wochen

blogurlaub schreib ich doch wieder. denken ohne papier ist definitiv schwieriger. doch ich bin wohl nicht die erste mit dieser erkenntnis:

"Der Meister spricht: Schreib! Sei es ein Brief oder ein Tagebuch oder Notizan, wahrend du telephonierst – aber schreib! Schreiben nähert uns Gott und unserem Nächsten. Wenn du deine Rolle in der Welt besser verstehen willst, dann schreib. Versuche deine Seele ins Schreiben zu legen, auch wenn niemand es liest, oder, was schlimmer ist, jemand es liest, obwohl du es nicht wolltest. Der einfache Akt des Schreibens hilft und die Gedanken zu ordnen und klar zu sehen, was uns umgibt.“ (Paul Coelho, Unterwegs)

Aus diesem Grund: hier schreibe ich. Ich kann nicht anders.

Heute, welch Bild des Jammers: Ein 85 jähriger Mann. Eine 75jährige, die seit 10 Jahren Parkinson hat und schon bald im Rollstuhl sitzen muss. Ein alter Hund mit lahmen Hinterbeinen, die unter seinem Gewicht wegsacken und eine Katze mit zwei steifen Vorderbeinen. Unfähig sich zu bewegen oder selbständig zu fressen. In der Wildnis zum Sterben verurteilt. Die Alten sind meine Grosseltern. Wenn die Nachbarn vom Einschläfern der Tiere sprechen, wird mein Grossvater wütend: "So lange die Viecher fressen, bellen und schnurren, und so lange ich noch genug Kraft habe, werden sie leben." "Schauen Sie sich doch Ihre eigenen Beine an". Der Nachbar zuckt die Schultern. "Verrückter, seniler Greis". Ich könnte heulen, wenn ich das sehe. Und würde den Nachbarn am liebsten erschlagen. Warum muss ein Leben voller Glück, voll von Erfolg und Abenteuer in solcher Hilflosigkeit enden? Manchmal verstehe ich Hemingway nur zu gut. Er hat sich mit sechzig eine Kugel durch den Kopf gejagt.

Aber dann: das Leuchten in den Augen meines Grossvaters, wenn ich vom Studium erzähle. Sein gieriges und wehmütiges Atmen der Spätsommerluft - voll von Erinnerungen und offenen Versprechen. Seine ausgemergelte, doch zähe Gestalt. Krumm und knorrig wie ein alter Olivenbaum. Oder ein verrostetes Uhakerl. Und das Lächeln in seinem Gesicht, wenn er mir stolz den leergefressenen Teller der verkrüppelten Katze zeigt.

Dann bin ich dankbar, dass mein Grossvater Hemingway nicht gemocht hat.

"Das Glück dauert immer nur kurz", sagt meine Grossmutter. "Davor zehren wir vom Warten darauf und danach von der Erinnerung." Sie wartet nicht mehr. Und flüchtet mit ihren Träumen in ihre Bücher. Oder in das ewige Spiel der versäumten Möglichkeiten. "Wenn damals nicht Krieg gewesen wäre.."

Nie will ich dieses Spielchen spielen. Niemals, nie. Nie will ich am Ende feststellen, dass ich mich mein ganzes Leben mit Kompromissen zufrieden gegeben habe. Dass die Traume aus den Nächten meiner Jugend nur in Form abgestorbener Gehirnzellen zur Realität geworden sind. Nie will ich anderen die Schuld daran geben. Ich neige dazu. Zum Träumen, dem Spiel mit den Möglichkeiten. Oft zögere ich, auf die Stimme in meinem Inneren hören, die mir im Grunde die Wahrheit sagt (auch wenn wir in einer Zeit leben, in der die Wahrheit abgeschafft wurde). Aber die Wahrheit ist unbequem und grausam - sie fordert Konsequenzen. Oft sogar höre ich die Stimme nicht einmal - sie geht im Mantra der Pflicht unter, das ich täglich auf meinen Lippen trage.
Mut, nicht frei sein von Angst, wünsch ich mir.

... Link


Online for 8234 days
Last modified: 5/17/02, 5:22 PM
Status
Youre not logged in ... Login
Menu
... Home
... Tags

Search
Calendar
September 2002
SunMonTueWedThuFriSat
1234567
891011121314
15161718192021
22232425262728
2930
AugustOctober
Recent updates
now blogging at
www.twoday.net. cu over there!
by Schmetterling (2/7/03, 4:39 PM)
twoday bin mit meiner meldung
zwar schon schnee von gestern - dennoch: das gerücht hat...
by Schmetterling (2/5/03, 11:27 AM)
rettung des tages wenigstens
eine erfolgsmeldung heute! (via sierra) ansonsten regen ein beitrag zur wahrnehmung...
by Schmetterling (1/27/03, 4:57 PM)
von enten und möven wenn
man bei der rossauerlände sitzt und dem fluss beim strömen...
by Schmetterling (1/24/03, 7:11 PM)
popper sehr cooles seminar bei
einem professor, der bei karl popper seine doktorabend geschrieben hat....
by Schmetterling (1/24/03, 7:06 PM)
relativierung das mit der routine
habe ich mir noch mal durch den kopf gehen lassen:...
by Schmetterling (1/24/03, 6:52 PM)
vorbei! und ein weiteres hakerl.
ärgerlich nur, wenn professoren spitzfindigkeiten fragen, bei denen sie selbst...
by Schmetterling (1/22/03, 11:35 AM)
abschied so viele sind
über die ganze welt verstreut. april, mai wird sehr leer werden...
by Schmetterling (1/13/03, 5:17 PM)
Unbedingt lesen. Ich mag im
Grunde Psychomechanik-Artikel von ManagementberaterInnen, augestiegenen InvestmentbankerInnen und feldenkraisenden MangerInnen nicht...
by Schmetterling (1/13/03, 11:48 AM)
nachtrag zu silvester 2002
danke findelkind&co. für die photoserie!
by Schmetterling (1/9/03, 12:40 AM)
ich will auch "jedes
jahr das gleiche ritual, man nimmt sich drei minuten vor jahreswechsel...
by Schmetterling (1/7/03, 12:30 PM)
afrika allafrica.com Ausserdem Buchempfehlung:
Andreas Altmann, Im Herzen das Feuer. Unterwegs von Kairo in den...
by Schmetterling (1/7/03, 2:03 AM)
Ich bin begeistert......ehrlich! click here
(LA-Schriftzüge anklicken - fünfter von links! - and enjoy ;-))
by Schmetterling (1/7/03, 12:58 AM)
Nice "The test of a
first-rate intelligence is the ability to hold two opposed ideas...
by Schmetterling (1/3/03, 12:00 PM)
Arc de Triomphe "Toleranz ist
die Tochter des Zweifels" "Frauen soll man anbeten oder verlassen....
by Schmetterling (1/2/03, 11:03 PM)
femmes-fête am 1.1. 2003
im U4. mal was anderes. und wirklich gute musik.
by Schmetterling (1/2/03, 5:27 PM)
silvester im waldviertel mit freunden.
die obligaten trinkspielchen. nacht"wanderung" mit fackeln - und walzertanzen unterm...
by Schmetterling (1/2/03, 5:24 PM)

RSS feed

Made with Antville
Helma Object Publisher